Das Buurtzorg-Modell: Fachkräfte binden und halten
Das Thema ist in aller Munde. Der Pflegemarkt ist leergefegt. Pflegefachkräfte kehren ihrem Beruf den Rücken, weil sie ausgelaugt und ausgebrannt sind. Junge Menschen wählen lieber gleich einen anderen Beruf. Die Politik will das Problem durch eine Erhöhung der Gehälter lösen. Aber reicht das wirklich aus? Für die meisten Pflegekräfte ist die Pflege nicht in erster Linie ein Beruf sondern Berufung. Wertschätzung heißt das Zauberwort, welches es im derzeitigen System leider immer weniger gibt. Pflegekräfte können im aktuellen System nicht mehr das tun, was sie am besten können und am meisten lieben, sondern werden gedrängt von Zeit und Dokumentation.
Inhalt
Alle reden über Buurtzorg
Eine Pflegeform zu installieren, bei der der Patient tatsächlich im Mittelpunkt steht, das ist dem Niederländer Jos de Blok vor 11 Jahren gelungen, als er das erste Buurtzorg-Team mit 4 Mitarbeitern gründete. Mittlerweile hat er über 10.000 Mitarbeiter. Buurtzorg bedeutet Nachbarschaftshilfe und arbeitet nach dem Motto „Menschlichkeit vor Bürokratie“. Auch in Deutschland lechzt die Pflegebranche nach mehr Menschlichkeit und weniger Bürokratie. Gunnar Sander, Geschäftsführer der Sander Pflege GmbH aus Emsdetten, arbeitet in einer Vorpilotphase mit einigen Teams nach dem Buurtzorg-Modell. Der Projektleiter Udo Janning hat dabei bereits einige deutsche Buurtzorg-Teams aufgebaut und teilt seine Erfahrungen mit Interessierten aus der Pflegebranche und angrenzenden Branchen. Von Herrn Janning haben wir erfahren, wie das Modell dazu beiträgt, Pflegefachkräfte zu gewinnen.
Wie Buurtzorg dazu beiträgt, Pflegefachkräfte zu gewinnen
„Bei Buurtzorg wird in kleinen, selbstorganisierten Teams von mindestens 4 bis maximal 10 – 12 Mitarbeitenden gearbeitet. Darunter befinden sich Pflegekräfte und Betreuungskräfte, die sich ganzheitlich um den Patienten kümmern“, so Janning. „Die Teamgröße richtet sich nach dem Patientenaufkommen im Einzugsgebiet und nach den Arbeitszeitwünschen der Mitarbeiter/-innen. Je größer Teams werden, desto mehr Patienten betreut werden, desto unpersönlicher wird es. Das wird im Buurtzorg-Modell durch Obergrenzen vermieden. Betreut werden maximal 50 Patienten. Bei mehr Patienten, wird ein neues Team gegründet. Die Verantwortung für die Patienten liegt im Team selber, nicht bei der Pflegedienstleitung, die in der Regel keinen Kontakt zum Patienten hat“, weiß Janning aus eigener Erfahrung.
Der positive Nebeneffekt: mehr Abwechslung und weniger Routine. Dazu meint Janning: „Gibt man Pflegefachkräften ihren Beruf zurück, macht man sie mit ihrer Arbeit glücklich und gleichzeitig auch die Patienten und deren Familien und Angehörige.“ Die Praxis zeigt außerdem, dass ein Kleinteam eine bessere Bezugspflege ermöglicht: Der Patient kennt die wenigen Teammitglieder gut und umgekehrt, so dass die Pflegekräfte sich gegenseitig vertreten können.
Zufriedene Pflegekräfte durch mehr Verantwortung und Flexibilität
Weiterer Vorteil für die Pflegekräfte: Die Arbeitszeiten werden flexibel unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebenssituation der Mitarbeiter/-innen und den Kundenanforderungen gehandhabt. Die Sander-Pflege in Emsdetten mit seinen derzeit 1.500 Mitarbeitern beispielsweise führt regelmäßig Mitarbeiter-Befragungen durch. Bei der Zufriedenheit schneiden die Buurtzorg-Teams eindeutig besser ab. Denn wenn bei einer Pflegeperson die Tragfähigkeit des Netzwerkes greift, steigt die Zufriedenheit des Klienten, weil er sich mehr und mehr gut aufgehoben und sicher fühlt. Damit fühlt sich auch die Pflegekraft entlastet und im Verlauf kann sich die reine Pflegezeit verringern.
„Aber“, erklärt der Projektleiter, „es gibt auch einige wenige Mitarbeiter, die diese Verantwortung nicht tragen möchten und sich im klassischen System wohler fühlen. Das ist aber eher die Ausnahme“.
Ronja Hohenhaus, seit einem Jahr im Buurtzorg-Team der Sander Pflege und vorher 20 Jahre in der klassischen Pflege, meint: „Buurtzorg ist eine neue Chance, eine ganzheitliche Pflege machen zu können, die eigene Lebensqualität zu steigern und ein Privatleben zu haben.“
Wodurch gelingt weniger Bürokratie?
Bei Buurtzorg garantieren Tablets eine schnelle und flexible Dokumentation. In den Niederlanden gibt es 8er Teams, die ausschließlich digital arbeiten und keine Räumlichkeiten mehr haben. Als Software-System wird „Omaha“ genutzt, ein System, dass seine Anfänge schon in den 1960er Jahren hatte und welches ganzheitlich alle Facetten des Patienten erfasst. „Das ist anfangs zeitintensiv, zahlt sich jedoch später aus“, erläutert Janning.
Auf eine Einzelzeitverrechnung wird verzichtet - gemeldet wird nur die Gesamtzeit an die Kranken- bzw. Pflegekasse. Wenn die Kassen bzw. der MDK wissen möchten, was im Detail gemacht wurde, können sie über einen Zugang zum System die Informationen selbst einsehen.
Und wie gelingt mehr Menschlichkeit?
Das Buurtzorg-Modell basiert darauf, dem Patienten eine aktivierende Pflege zu teil werden zu lassen. So hat die Pflegekraft in den Niederlanden beispielsweise keinen Wohnungsschlüssel mehr. Der Patient soll selbst die Tür öffnen – auch wenn das ein wenig länger dauert. Die Pflegekraft muss den Patienten also wieder aktivieren und motivieren. Mit der zur Verfügung stehenden Zeit kann das trainiert und erreicht werden. In Holland beispielsweise haben die Kassen 30 % weniger Ausgaben, seit Buurtzorg nach der neuen Nachbarschaftshilfe arbeitet, weil die Patienten immer weniger fachliche Hilfe benötigen. „Es geht also weg von dem System, den Patienten immer noch mehr an die Pflege zu binden. Hin zu mehr Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit“, sagt Udo Janning.
Bei Buurtzorg gibt es keine Wertigkeit zwischen klassischen Pflegetätigkeiten und sozialen Arbeiten. Es kann das getan werden, was gerade nötig ist. So sind beispielsweise Trösten und einfach Dasein im alten System nicht abrechenbar, bei Buurtzorg aber durchaus. „Auch ein Gespräch mit Angehörigen, Pastor oder Nachbarn, um Unterstützungs-Netzwerke aufzubauen, sind nun durchführbar und gehören zu den Grundlagen im Buurtzorgsystem“, berichtet Janning. „Und Buurtzorg hat die Angehörigen mit im Blick. Sieht die Pflegekraft beispielsweise, dass der Angehörige an seine Grenzen stößt, werden auch hier Maßnahmen, wie beispielsweise eine Empfehlung für die Tagespflege, ergriffen.“
Ernährung in der Pflege
Das Pflegegesetz schreibt es vor: Ein Pflegedienst muss den Klienten in Ernährungsfragen beraten, Gewicht kontrollieren und dokumentieren. „Damit hat der Pflegedienst allerdings auch schon seine Schuldigkeit getan“, so Janning. Dass aber eine ausgewogene, vielseitige Ernährung für den Erhalt der Gesundheit von großer Bedeutung ist, wird in der ambulanten Pflege häufig vergessen. Mit zunehmendem Alter verringert sich nämlich die Muskelmasse, während der Körperfettanteil ansteigt. Mit dem Verlust der Muskelmasse schwindet die körperliche Kraft. Der Muskelabbau nimmt Einfluss auf den Energiebedarf, den Appetit, aber auch auf die körperliche Beweglichkeit und Belastbarkeit. Gerade Senioren, die sich wenig bewegen oder bettlägerige Menschen sind besonders von diesen Prozessen betroffen. Mit einem guten Ernährungs- und Gesundheitszustand im Alter wird die Beweglichkeit bzw. Gehfähigkeit unterstützt und somit das Risiko für Krankheiten, Stürze und Knochenbrüche verringert. Weitere Vorteile sind Steigerung des Appetits und Erhalt der Selbständigkeit im Alltag. Also all das, wofür auch Buurtzorg steht. Unterstützen kann dabei ein Essenbringdienst wie die Landhausküche. Er liefert – auf Wunsch täglich - eine warme Mahlzeit, die ausgewogen und vielseitig ist.
Wie genau funktioniert Buurtzorg nun?
Das Ziel ist Wahrung der Eigenständigkeit und Unterstützung der Unabhängigkeit (je nach Möglichkeit auch von der Pflege). „Zu Beginn der Pflege wird erst alles gemacht, was der Patient glaubt, was nötig ist. Das ist natürlich sehr zeitintensiv“, weiß Janning. „Erst dann wird geschaut, was können Angehörige übernehmen, was Nachbarn, was kann dem Senior wieder beigebracht werden.“
Zusammengefasst sind es sechs Punkte in der Herangehensweise, die nur, wenn sie vollständig abgedeckt werden, das Modell widerspiegeln: Die Bedürfnisse des Kunden werden ganzheitlich betrachtet, aufgenommen und bewertet. Auf dieser Grundlage entsteht ein individueller Pflegeplan. Danach folgt der Einbezug der informellen Unterstützungs-Netzwerke in die Pflege und die Identifizierung und Einbindung der formalen Betreuung und Hilfsmöglichkeiten. Die qualifizierte Fachkrankenpflege wird als Dienstleistung geliefert und die Klienten in ihren sozialen Rollen aktiv unterstützt. So wird die Unabhängigkeit erhalten und die Eigeninitiative in der Selbstfürsorge aktiv gefördert.
Voraussetzungen für Buurtzorg
Die Ausgangslage ist klar. Ärzte können immer weniger Hausbesuche durchführen, damit sind Pflegekräfte neben Angehörigen der einzige Kontakt zum Senior. Laut Janning ist es unabdingbar, dass sich alle wieder vertrauen. „Derzeit vertraut der Patient seinem Arzt nicht, der Arzt vertraut der Krankenkasse nicht, die Krankenkasse der Pflege nicht. Dass wir alle (Kassen, MDK, Pflegedienste) dafür da sind, dem Senior zu helfen, ist verloren gegangen. Schließlich soll der MDK nicht nur kontrollieren sondern vor allem beraten und das am Besten im regen Austausch mit dem Buurtzorgteam, besser noch als Netzwerkpartner.“Um nach Buurtzorg pflegen und abrechnen zu können, sind neue Rahmenverträge mit den Kassen notwendig. Die Kassen sind gesetzlich verpflichtet, Ihren Versicherten einen Pflegeplatz zur Verfügung zu stellen. Da das zunehmend schwieriger wird, haben die Kassen alternativen Modellen gegenüber ein offenes Ohr. Nun gilt es Vertrauen aufzubauen und sich zu vernetzen, um den Patienten die größtmögliche Selbstständigkeit zu ermöglichen und den Pflegekräften die Freude an ihrem Beruf zurückzugeben.
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